29.09.2020

»…wenn die Welt in Stücke fällt«

Ein Gespräch über das Musical »Cabaret« mit Nurkan Erpulat (Regie) und Dominik Beykirch (Musikalische Leitung). Die Fragen stellten Carsten Weber und Hans-Georg Wegner (Dramaturgie).

 

Nurkan, »Cabaret« ist deine erste Musiktheater-Regie, sonst arbeitest du im Schauspiel. Was fasziniert dich am Genre Musical, dass du dich entschieden hast, die Inszenierung bei uns zu übernehmen?

Nurkan Erpulat: Ich habe als Kind im Fernsehen alle bekannten Hollywood-Musicals gesehen: »Grease«, »My Fair Lady«, »Singin’ in the Rain«, »The Sound of Music« … Die bunten Kostüme, die schönen Menschen, die in Lieder gepackten Emotionen, der magische, aber gleichzeitig lustige Moment, wenn jemand begonnen hat zu singen. Das alles hat mich seit meiner Kindheit schon fasziniert. Ich möchte mit dem Genre spielen, weil es oft als leichtsinnig begriffen wurde. Das verstehe ich als Chance. Ich möchte die Zuschauer*innen einerseits mit dieser Leichtigkeit einladen, aber mit ihnen thematisch und ästhetisch tiefergehende Abend erleben. Das geht mit diesem Genre sehr gut, weil die Erwartung des Publikums an einen Musicalabend in erster Linie auf Unterhaltung zielt. Doch viele Musicals sind inhaltlich doch sehr stark und dazu gehört auch »Cabaret«.

Dominik, du hast bei uns am Haus bereits Musicals wie »My Fair Lady« oder »Candide« erarbeitet. Was macht im Vergleich dazu den besonderen Reiz von »Cabaret« für dich aus?

Dominik Beykirch: »Cabaret« spielt in einer sehr greifbaren Welt – englische Pferderennen wie in der »Lady« oder eine irreal konstruierte Weltreise wie in »Candide« wird man hier nicht finden. Stattdessen spiegelt das Milieu den Balanceakt der 1920er/1930er wider: Zwischen Frohsinn, Dekadenz und Wollust einerseits und Existenznöten und den brodelnden politischen/geistigen Wandlungen andererseits. Die Musik versucht diesen Zwiespalt ebenfalls auszudrücken: Einige Nummern strotzen vor Glamour, Albernheit und Effekten, andere wiederum berühren zutiefst. Und spätestens Sallys Zeile kurz vor Stückschluss: »…und wenn die Welt in Stücke fällt: Ich liebe das Cabaret!« hören wir im Wissen um die Schrecken des 2. Weltkriegs mit einem gewaltigen Unbehagen.

Eine der brennenden Debatten in Deutschland, die durch die Corona-Krise verdrängt scheint, ist die über Zunahme rechtskonservativer bzw. rechtsextremer Haltungen in der Bevölkerung und der Politik. Inwieweit fließt das aktuelle gesellschaftliche Klima in deine konzeptionellen Überlegungen mit ein?

Nurkan Erpulat: Man kann »Cabaret« nicht betrachten, ohne diese Entwicklung zu sehen – nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Wir sehen, dass rechtsextremes und
rechtskonservatives Gedankengut immer mehr Gehör findet und diese Haltung schärfer und lauter wird. Was vor zehn Jahren unerhört gewesen wäre, ist heute
Normalität. Im Parlament werden lautstark Dinge gesagt, die man vor den letzten Wahlen nicht akzeptiert hätte. Dennoch verfolgen wir in unseren konzeptionellen Überlegungen keine Eins-zu-eins-Übersetzung auf die Gegenwart. Eher hat der Kern dieses Musicals mit uns zu tun, mit Menschen, Haltungen, Entscheidungen, Enttäuschungen. Und aus diesem Kern heraus versuchen wir zu erzählen, wie Menschen, die Opfer von rechter Gewalt wurden, zu Mitmachern werden. Diesem Wie und Warum möchten wir gern nachgehen.

Für diesen inhaltlichen Aspekt steht als musikalische Entsprechung besonders das Volkslied »Der morgige Tag ist mein«, das aus dem Stil des vor allem von Jazz und Ragtime inspirierten Musicals heraussticht?

Dominik Beykirch: Das Lied ist eine Erfindung von Kander/Ebb nach dem Vorbild der deutsch-romantischen Volkslieder, z. B. »Die Loreley«. Diese Stilkopie ist den beiden so gut gelungen, dass man meint, das Lied zu kennen und mitsingen zu können. Und genau dadurch geraten wir – selbst als Zuhörer*innen – mühelos in den gefährlichen Strudel: Es beginnt mit einem einzelnen Sänger, mit der Zeit kommen weitere dazu, später auch Instrumente. Man verfolgt im Zeitraffer, wie sich das Lied bzw. die Idee dahinter, den Weg bahnt vom Geist eines Einzelnen über die Lagerfeuerrunde oder das Kneipenhinterzimmer hin zur privaten Feier, um dann – immer größer und politisch bedeutsamer – ein »Volks«-Lied zu werden.

Du hast eine Schauspielausbildung in der Türkei absolviert, wo du auch geboren und aufgewachsen bist. In Deutschland hast du später Regie studiert. Inwiefern prägt dieser Werdegang deinen Zugriff auf das englisch-amerikanische Musical-Genre?

Nurkan Erpulat: Ich kann nicht sagen, dass meine Ausbildung in der Türkei und in Deutschland einen direkten Einfluss darauf gehabt hätte, wie ich das Musicalgenre sehe. Aber vielleicht kann ich sagen, dass Musicals sehr oft tragikomische Züge haben. Und ich persönlich sehe die Dinge – sowohl meine Zeit in der Türkei wie die in Deutschland – auch oft sehr tragikomisch. Und diese Erfahrung möchte ich mit einfließen lassen.

Aufgrund der empfohlenen Abstands- und Hygieneregeln mussten wir die Orchesterbesetzung von 20 auf 8 Musiker*innen reduzieren. Das Arrangement erarbeitest du gemeinsam mit Karl Epp. Ist die Reduktion nur »Fluch« oder auch ein bisschen »Segen«?

Dominik Beykirch: Ich würde sogar sagen, sie ist nach der plötzlichen Corona-Zwangspause ausschließlich ein Segen! Wir beide sitzen hochmotiviert und eifrig bis in die Nächte, erfreuen uns an dieser so wunderbaren Musik und können durch die Reduktion das Stück in Tonarten, Klangfarben und Instrumentation ideal für die Bedingungen des DNT anpassen. Das wäre unter normalen Umständen zeitlich wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen.

Wie gehst du mit diesen Bedingungen in der szenischen Probenarbeit um, wo sich doch »Cabaret« im Kern um eine Liebesgeschichte dreht?

Nurkan Erpulat: Alle werden Astronautenkostüme anziehen – nein, ein Scherz. Das ist eine schwierige Frage. Wir nehmen die Hygienemaßnahmen sehr ernst. Das schränkt unsere ursprüngliche Konzeption ein. Doch wir wissen aus der Kunst: Jede Einschränkung öffnet wieder einen bestimmten Freiraum. Darum versuchen wir, auch in diesem neuen Rahmen kreativ zu werden. Ich bin gespannt, ob uns das gelingt.

Wir spielen mit einem gemischten Ensemble aus Schauspieler*innen, Soli aus dem Musiktheater, Chorist*innen und Tänzer*innen. Wo liegt dabei für dich als Musikalischem Leiter die Herausforderung?

Dominik Beykirch: Wenn Kolleg*innen mit sehr unterschiedlichen künstlerischen Profilen zusammenarbeiten, ist es eine wichtige Aufgabe, alle auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, niemanden zu überlasten und jede/n Einzelne/n auch konditionell für die Aufführung vorzubereiten. Das Konzept des Musicals lebt schließlich davon, dass die Darsteller*innen singen, spielen, sprechen und tanzen – und das nicht selten zeitgleich. Eine weitere Herausforderung wird zudem sicherlich der große Abstand zwischen den Musiker*innen, denn ob Kammermusik, Band oder Sinfonieorchester: alle müssen sich untereinander gut hören, um gemeinsam musizieren zu können.

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem »SCHAUPLATZ - Theater- und Konzertmagazin« (September bis November 2020), welches kostenlos in unserem Theater mitgenommen oder hier als PDF heruntergeladen werden kann.